August 8, 2022
Jeder, der irgendwann einmal einen "neuen Himmel" gebaut hat, fand die Macht dazu erst in der eignen Hölle... Drücken wir den ganzen Thatbestand in kurze Formeln zusammen: der philosophische Geist hat sich zunächst immer in die früher festgestellten Typen des contemplativen Menschen verkleiden und verpuppen müssen, als Priester, Zauberer, Wahrsager, überhaupt als religiöser Mensch, um in irgend einem Maasse auch nur möglich zu sein: das asketische Ideal hat lange Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Existenzvoraussetzung gedient, - er musste es darstellen, um Philosoph sein zu können, er musste an dasselbe glauben, um es darstellen zu können.
Der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, — er ist das kranke Thier: woher kommt das? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle übrigen Thiere zusammen genommen: er, der grosse Experimentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Thier, Natur und Göttern ringt, — er, der immer noch Unbezwungne, der ewig-Zukünftige, der vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr findet, so dass ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt: — wie sollte ein solches muthiges und reiches Thier nicht auch das am meisten gefährdete, das am Längsten und Tiefsten kranke unter allen kranken Thieren sein?… Der Mensch hat es satt, oft genug, es giebt ganze Epidemien dieses Satthabens (— so um 1348 herum, zur Zeit des Todtentanzes): aber selbst noch dieser Ekel, diese Müdigkeit, dieser Verdruss an sich selbst — Alles tritt an ihm so mächtig heraus, dass es sofort wieder zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine Fülle zarterer Ja’s an’s Licht; ja wenn er sich verwundet, dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung, — hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, zu leben.
Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluss verführen, die Erde sei der eigentlich asketische Stern, ein Winkel missvergnügter, hochmüthiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruss an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel Wehe täten als möglich, aus Vergnügen am Wehetun: - wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen.
Dessen Herkunft hat die vorige Abhandlung kurz angedeutet — als ein Stück Thierpsychologie, als nicht mehr: das Schuldgefühl trat uns dort gleichsam in seinem Rohzustande entgegen. Erst unter den Händen des Priesters, dieses eigentlichen Künstlers in Schuldgefühlen, hat es Gestalt gewonnen — oh was für eine Gestalt! Die „Sünde“ — denn so lautet die priesterliche Umdeutung des thierischen „schlechten Gewissens“ (der rückwärts gewendeten Grausamkeit) — ist bisher das grösste Ereigniss in der Geschichte der kranken Seele gewesen: in ihr haben wir das gefährlichste und verhängnissvollste Kunststück der religiösen Interpretation. Der Mensch, an sich selbst leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch, etwa wie ein Thier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu? begehrlich nach Gründen — Gründe erleichtern —, begehrlich auch nach Mitteln und Narkosen, beräth sich endlich mit Einem, der auch das Verborgene weiss — und siehe da! er bekommt einen Wink, er bekommt von seinem Zauberer, dem asketischen Priester, den ersten Wink über die „Ursache“ seines Leidens: er soll sie in sich suchen, in einer Schuld, in einem Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als einen Strafzustand verstehn… Er hat gehört, er hat verstanden, der Unglückliche: jetzt geht es ihm wie der Henne, um die ein Strich gezogen ist. Er kommt aus diesem Kreis von Strichen nicht wieder heraus: aus dem Kranken ist „der Sünder“ gemacht… Und nun wird man den Aspekt dieses neuen Kranken, „des Sünders“, für ein paar Jahrtausende nicht los, — wird man ihn je wieder los? — wohin man nur sieht, überall der hypnotische Blick des Sünders, der sich immer in der Einen Richtung bewegt (in der Richtung auf „Schuld“, als der einzigen Leidens-Causalität); überall das böse Gewissen, dies „grewliche thier“, mit Luther zu reden.
Insgleichen befrage man die Geschichte: überall, wo der asketische Priester diese Krankenbehandlung durchgesetzt hat, ist jedes Mal die Krankhaftigkeit unheimlich schnell in die Tiefe und Breite gewachsen. Was war immer der „Erfolg“? Ein zerrüttetes Nervensystem, hinzu zu dem, was sonst schon krank war; und das im Grössten wie im Kleinsten, bei Einzelnen wie bei Massen. Wir finden im Gefolge des Buss- und Erlösungs-training ungeheure epileptische Epidemien, die grössten, von denen die Geschichte weiss, wie die der St. Veit- und St. Johann-Tänzer des Mittelalters; wir finden als andre Form seines Nachspiels furchtbare Lähmungen und Dauer-Depressionen, mit denen unter Umständen das Temperament eines Volkes oder einer Stadt (Genf, Basel) ein für alle Mal in sein Gegentheil umschlägt; — hierher gehört auch die Hexen-Hysterie, etwas dem Somnambulismus Verwandtes (acht grosse epidemische Ausbrüche derselben allein zwischen 1564 und 1605) —; wir finden in seinem Gefolge insgleichen jene todsüchtigen Massen-Delirien, deren entsetzlicher Schrei „evviva la morte“ über ganz Europa weg gehört wurde, unterbrochen bald von wollüstigen, bald von zerstörungswüthigen Idiosynkrasien: wie der gleiche Affektwechsel, mit den gleichen Intermittenzen und Umsprüngen auch heute noch überall beobachtet wird, in jedem Falle, wo die asketische Sündenlehre es wieder einmal zu einem grossen Erfolge bringt (die religiöse Neurose erscheint als eine Form des „bösen Wesens“: daran ist kein Zweifel. Was sie ist? Quaeritur.)
Das eben bedeutet das asketische Ideal: dass Etwas fehlte, dass eine ungeheure Lücke den Menschen umstand, — er wusste sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Thier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der Frage „wozu leiden?“ Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Thier, verneint an sich nicht das Leiden: er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, dass man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag, — und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! Es war bisher der einzige Sinn; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn; das asketische Ideal war in jedem Betracht das „faute de mieux“ par excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leiden ausgelegt; die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Thür schloss sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung — es ist kein Zweifel — brachte neues Leiden mit sich, tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der Schuld… Aber trotzalledem — der Mensch war damit gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des „Ohne-Sinns“, er konnte nunmehr Etwas wollen, — gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Wille selbst war gerettet. Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, was eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Hass gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Thierische, mehr noch gegen das Stoffliche, dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst, diese Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst — das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille!… Und, um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen.
September 6, 2018
Unter ihnen giebt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort „Gerechtigkeit“ wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzten Mundes, immer bereit, Alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muths seine Strasse zieht. Unter ihnen fehlt auch jene ekelhafteste Species der Eitlen nicht, die verlognen Missgeburten, die darauf aus sind, „schöne Seelen“ darzustellen und etwa ihre verhunzte Sinnlichkeit, in Verse und andere Windeln gewickelt, als „Reinheit des Herzens“ auf den Markt bringen: die Species der moralischen Onanisten und „Selbstbefriediger“. Der Wille der Kranken, irgend eine Form der Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt für Schleichwege, die zu einer Tyrannei über die Gesunden führen, — wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur Macht! Das kranke Weib in Sonderheit: Niemand übertrifft es in Raffinements, zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisiren.
Die Leidenden sind allesammt von einer entsetzlichen Bereitwilligkeit und Erfindsamkeit in Vorwänden zu schmerzhaften Affekten; sie geniessen ihren Argwohn schon, das Grübeln über Schlechtigkeiten und scheinbare Beeinträchtigungen, sie durchwühlen die Eingeweide ihrer Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen freisteht, in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eignen Gifte der Bosheit sich zu berauschen — sie reissen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheilten Narben, sie machen Übelthäter aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächsten steht. „Ich leide: daran muss irgend Jemand schuld sein“ — also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm: „Recht so, mein Schaf! irgend wer muss daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, — du selbst bist an dir allein schuld!“… Das ist kühn genug, falsch genug: aber Eins ist damit wenigstens erreicht, damit ist die Richtung des Ressentiment — verändert.
Der „seelische Schmerz“ selbst gilt mir überhaupt nicht als Thatbestand, sondern nur als eine Auslegung (Causal-Auslegung) von bisher nicht exakt zu formulirenden Thatbeständen: somit als Etwas, das vollkommen noch in der Luft schwebt und wissenschaftlich unverbindlich ist, — ein fettes Wort eigentlich nur an Stelle eines sogar spindeldürren Fragezeichens. Wenn Jemand mit einem „seelischen Schmerz“ nicht fertig wird, so liegt das, grob geredet, nicht an seiner „Seele“; wahrscheinlicher noch an seinem Bauche (grob geredet, wie gesagt: womit noch keineswegs der Wunsch ausgedrückt ist, auch grob gehört, grob verstanden zu werden…)
Die "Wohlgeborenen" fühlten sich eben als die "Glücklichen"; sie hatten ihr Glück nicht erst durch einen Blick auf ihre Feinde künstlich zu kontruieren, unter Umständen einzureden, einzulügen (wie es alle Menschen des Ressentiments zu tun pflegen); und ebenfalls wussten sie, als volle, mit Kraft überladne, folglich nothwendig aktive Menschen, von dem Glück das Handeln nicht abzutrennen, - das Thätigsein wird bei ihnen mit Nothwendigkeit in's Glück hineingerechnet (...) Alles sehr im Gegensatz zu dem "Glück" auf der Stufe der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden, bei denen es wesentlich als Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden, "Sabbat", Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken, kurz passivisch auftritt. Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt, so ost der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte mutet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen. Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird nothwendig endlich klüger seinals irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Masse ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges.
July 7, 2010
In einem solchen Falle wird jedes Mal im grössten Stil ein Kampf mit dem Unlustgefühl versucht; unterrichten wir uns kurz über dessen wichtigste Praktiken und Formen. (Ich lasse hier, wie billig, den eigentlichen Philosophen-Kampf gegen das Unlustgefühl, der immer gleichzeitig zu sein pflegt, ganz bei Seite — er ist interessant genug, aber zu absurd, zu praktisch-gleichgültig, zu spinneweberisch und eckensteherhaft, etwa wenn der Schmerz als ein Irrthum bewiesen werden soll, unter der naiven Voraussetzung, dass der Schmerz schwinden müsse, wenn erst der Irrthum in ihm erkannt ist — aber siehe da! er hütete sich, zu schwinden…) Man bekämpft erstens jene dominirende Unlust durch Mittel, welche das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen. Womöglich überhaupt kein Wollen, kein Wunsch mehr; Allem, was Affekt macht, was „Blut“ macht, ausweichen (kein Salz essen: Hygiene des Fakirs).
„Im tiefen Schlafe, sagen insgleichen die Gläubigen dieser tiefsten der drei grossen Religionen, hebt sich die Seele heraus aus diesem Leibe, geht ein in das höchste Licht und tritt dadurch hervor in eigener Gestalt: da ist sie der höchste Geist selbst, der herumwandelt, indem er scherzt und spielt und sich ergötzt, sei es mit Weibern oder mit Wagen oder mit Freunden, da denkt sie nicht mehr zurück an dieses Anhängsel von Leib, an welches der prâna (der Lebensodem) angespannt ist wie ein Zugthier an den Karren.“ Trotzdem wollen wir auch hier, wie im Falle der „Erlösung“, uns gegenwärtig halten, dass damit im Grunde, wie sehr auch immer in der Pracht orientalischer Übertreibung, nur die gleiche Schätzung ausgedrückt ist, welche die des klaren, kühlen, griechisch-kühlen, aber leidenden Epikur war: das hypnotische Nichts-Gefühl, die Ruhe des tiefsten Schlafes, Leidlosigkeit kurzum — das darf Leidenden und Gründlich-Verstimmten schon als höchstes Gut, als Werth der Werthe gelten, das muss von ihnen als positiv abgeschätzt, als das Positive selbst empfunden werden. (Nach derselben Logik des Gefühls heisst in allen pessimistischen Religionen das Nichts Gott.)
Man mag im besten Rechte sein, wenn man vor der blinden Bestie auf dem Grunde aller vornehmen Rassen die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist: aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich nicht fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Missrathenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr los werden können? Und ist dass nicht unser Verhängniss? Was macht heute unsern Widerwillen gegen "den Menschen" - denn wir leiden am Menschen, es ist kein Zweifel. - Nicht die Furcht, eher, dass wir Nichts mehr am Menschen zu fürchten haben; dass das Gewürm "Mensch" im Vordergrunde ist und wimmelt; dass der "zahme Mensch", der Heillos-Mittelmäßige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und Spitze, als Sinn der Geschichte, als "höheren Menschen" zu fühlen gelernt hat; - ja dass er ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstande von der Überfülle des Missrathenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt.
November 4, 2007
Viel häufiger als eine solche hypnotistische Gesammtdämpfung der Sensibilität, der Schmerzfähigkeit, welche schon seltnere Kräfte, vor Allem Muth, Verachtung der Meinung, „intellektuellen Stoicismus“ voraussetzt, wird gegen Depressions-Zustände ein anderes training versucht, welches jedenfalls leichter ist: die machinale Thätigkeit. Dass mit ihr ein leidendes Dasein in einem nicht unbeträchtlichen Grade erleichtert wird, steht ausser allem Zweifel: man nennt heute diese Thatsache, etwas unehrlich, „den Segen der Arbeit“. Die Erleichterung besteht darin, dass das Interesse des Leidenden grundsätzlich vom Leiden abgelenkt wird, — dass beständig ein Thun und wieder nur ein Thun in’s Bewusstsein tritt und folglich wenig Platz darin für Leiden bleibt: denn sie ist eng, diese Kammer des menschlichen Bewusstseins! Die machinale Thätigkeit und was zu ihr gehört — wie die absolute Regularität, der pünktliche besinnungslose Gehorsam, das Ein-für-alle-Mal der Lebensweise, die Ausfüllung der Zeit, eine gewisse Erlaubniss, ja eine Zucht zur „Unpersönlichkeit“, zum Sich-selbst-Vergessen, zur „incuria sui“ —: wie gründlich, wie fein hat der asketische Priester sie im Kampf mit dem Schmerz zu benutzen gewusst! Gerade wenn er mit Leidenden der niederen Stände, mit Arbeitssklaven oder Gefangenen zu thun hatte (oder mit Frauen: die ja meistens Beides zugleich sind, Arbeitssklaven und Gefangene), so bedurfte es wenig mehr als einer kleinen Kunst des Namenwechselns und der Umtaufung, um sie in verhassten Dingen fürderhin eine Wohlthat, ein relatives Glück sehn zu machen: — die Unzufriedenheit des Sklaven mit seinem Loos ist jedenfalls nicht von den Priestern erfunden worden. — Ein noch geschätzteres Mittel im Kampf mit der Depression ist die Ordinirung einer kleinen Freude, die leicht zugänglich ist und zur Regel gemacht werden kann; man bedient sich dieser Medikation häufig in Verbindung mit der eben besprochnen. Die häufigste Form, in der die Freude dergestalt als Kurmittel ordinirt wird, ist die Freude des Freude-Machens (als Wohlthun, Beschenken, Erleichtern, Helfen, Zureden, Trösten, Loben, Auszeichnen); der asketische Priester verordnet damit, dass er „Nächstenliebe“ verordnet, im Grunde eine Erregung des stärksten, lebenbejahendsten Triebes, wenn auch in der vorsichtigsten Dosirung, — des Willens zur Macht. Das Glück der „kleinsten Überlegenheit“, wie es alles Wohlthun, Nützen, Helfen, Auszeichnen mit sich bringt, ist das reichlichste Trostmittel, dessen sich die Physiologisch-Gehemmten zu bedienen pflegen, gesetzt dass sie gut berathen sind: im andern Falle thun sie einander weh, natürlich im Gehorsam gegen den gleichen Grundinstinkt. Wenn man nach den Anfängen des Christenthums in der römischen Welt sucht, so findet man Vereine zu gegenseitiger Unterstützung, Armen-, Kranken-, Begräbniss-Vereine, aufgewachsen auf dem untersten Boden der damaligen Gesellschaft, in denen mit Bewusstsein jenes Hauptmittel gegen die Depression, die kleine Freude, die des gegenseitigen Wohlthuns gepflegt wurde, — vielleicht war dies damals etwas Neues, eine eigentliche Entdeckung? In einem dergestalt hervorgerufnen „Willen zur Gegenseitigkeit“, zur Heerdenbildung, zur „Gemeinde“, zum „Cönakel“ muss nun wiederum jener damit, wenn auch im Kleinsten, erregte Wille zur Macht, zu einem neuen und viel volleren Ausbruch kommen: die Heerdenbildung ist im Kampf mit der Depression ein wesentlicher Schritt und Sieg. Im Wachsen der Gemeinde erstarkt auch für den Einzelnen ein neues Interesse, das ihn oft genug über das Persönlichste seines Missmuths, seine Abneigung gegen sich (die „despectio sui“ des Geulinx) hinweghebt. Alle Kranken, Krankhaften streben instinktiv, aus einem Verlangen nach Abschüttelung der dumpfen Unlust und des Schwächegefühls, nach einer Heerden-Organisation: der asketische Priester erräth diesen Instinkt und fördert ihn; wo es Heerden giebt, ist es der Schwäche-Instinkt, der die Heerde gewollt hat, und die Priester-Klugheit, die sie organisirt hat. Denn man übersehe dies nicht: die Starken streben ebenso naturnothwendig auseinander, als die Schwachen zu einander; wenn erstere sich verbinden, so geschieht es nur in der Aussicht auf eine aggressive Gesammt-Aktion und Gesammt-Befriedigung ihres Willens zur Macht, mit vielem Widerstande des Einzel-Gewissens; letztere dagegen ordnen sich zusammen, mit Lust gerade an dieser Zusammenordnung, — ihr Instinkt ist dabei ebenso befriedigt, wie der Instinkt der geborenen „Herren“ (das heisst der solitären Raubthier-Species Mensch) im Grunde durch Organisation gereizt und beunruhigt wird. Unter jeder Oligarchie liegt — die ganze Geschichte lehrt es — immer das tyrannische Gelüst versteckt; jede Oligarchie zittert beständig von der Spannung her, welche jeder Einzelne in ihr nöthig hat, Herr über dies Gelüst zu bleiben. (So war es zum Beispiel griechisch: Plato bezeugt es an hundert Stellen, Plato, der seines Gleichen kannte — und sich selbst…)
August 12, 2004
Unsre Gebildeten von Heute, unsre „Guten“ lügen nicht — das ist wahr; aber es gereicht ihnen nicht zur Ehre! Die eigentliche Lüge, die ächte resolute „ehrliche“ Lüge (über deren Werth man Plato hören möge) wäre für sie etwas bei weitem zu Strenges, zu Starkes; es würde verlangen, was man von ihnen nicht verlangen darf, dass sie die Augen gegen sich selbst aufmachten, dass sie zwischen „wahr“ und „falsch“ bei sich selber zu unterscheiden wüssten. Ihnen geziemt allein die unehrliche Lüge; Alles, was sich heute als „guter Mensch“ fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgend einer Sache anders zu stehn als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese „guten Menschen“, — sie sind allesammt jetzt in Grund und Boden vermoralisirt und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch eine Wahrheit „über den Menschen“ aus!… Oder, greiflicher gefragt: wer von ihnen ertrüge eine wahre Biographie!… Ein paar Anzeichen: Lord Byron hat einiges Persönlichste über sich aufgezeichnet, aber Thomas Moore war „zu gut“ dafür: er verbrannte die Papiere seines Freundes. Dasselbe soll Dr. Gwinner gethan haben, der Testaments-Vollstrecker Schopenhauer’s: denn auch Schopenhauer hatte Einiges über sich und vielleicht auch gegen sich („εἰς ἑαυτόν“) aufgezeichnet. Der tüchtige Amerikaner Thayer, der Biograph Beethoven’s, hat mit Einem Male in seiner Arbeit Halt gemacht: an irgend einem Punkte dieses ehrwürdigen und naiven Lebens angelangt, hielt er dasselbe nicht mehr aus… Moral: welcher kluge Mann schriebe heute noch ein ehrliches Wort über sich? — er müsste denn schon zum Orden der heiligen Tollkühnheit gehören. Man verspricht uns eine Selbstbiographie Richard Wagner’s: wer zweifelt daran, dass es eine kluge Selbstbiographie sein wird?… Gedenken wir noch des komischen Entsetzens, welches der katholische Priester Janssen mit seinem über alle Begriffe viereckig und harmlos gerathenen Bilde der deutschen Reformations-Bewegung in Deutschland erregt hat; was würde man erst beginnen, wenn uns Jemand diese Bewegung einmal anders erzählte, wenn uns einmal ein wirklicher Psycholog einen wirklichen Luther erzählte, nicht mehr mit der moralistischen Einfalt eines Landgeistlichen, nicht mehr mit der süsslichen und rücksichtsvollen Schamhaftigkeit protestantischer Historiker, sondern etwa mit einer Taine’schen Unerschrockenheit, aus einer Stärke der Seele heraus und nicht aus einer klugen Indulgenz gegen die Stärke?… (Die Deutschen, anbei gesagt, haben den klassischen Typus der letzteren zuletzt noch schön genug herausgebracht, — sie dürfen ihn sich schon zurechnen, zu Gute rechnen: nämlich in ihrem Leopold Ranke, diesem gebornen klassischen advocatus jeder causa fortior, diesem klügsten aller klugen „Thatsächlichen“.)
November 21, 1990
Alle Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demüthigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswerthes Geständniss gemacht hat, „sie vernichtet meine Wichtigkeit“…), alle Wissenschaft, die natürliche sowohl, wie die unnatürliche — so heisse ich die Erkenntniss-Selbstkritik — ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe Nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei; man könnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mühsam errungene Selbstverachtung des Menschen als dessen letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrecht zu erhalten (mit Recht, in der That: denn der Verachtende ist immer noch Einer, der „das Achten nicht verlernt hat“…) Wird damit dem asketischen Ideale eigentlich entgegengearbeitet? Meint man wirklich alles Ernstes noch (wie es die Theologen eine Zeit lang sich einbildeten), dass etwa Kant’s Sieg über die theologische Begriffs-Dogmatik („Gott“, „Seele“, „Freiheit“, „Unsterblichkeit“) jenem Ideale Abbruch gethan habe?
Unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die "Subjekte" nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, insgleichen das Kantische "Ding an sich"): was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt glimmenden Affekte Rache und Hass diesen Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar keinen Glauben inbrünstiger aufrecht erhalten als den, es stehe dem Starken frei, schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein: - damit gewinnen sie ja bei sich das Recht, dem Raubvogel es zuzurechnen, Raubvogel zu sein... Wenn die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden: "lasst uns anders sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist Jeder, der nicht vergewaltigt, der Niemanden verletzt, der nicht angreift, der nicht vergilt, der die Rache Gott übergiebt, der sich wie wir im Verborgenen hält, der allem Bösen aus dem Wege geht und wenig überhaupt vom Leben verlangt, gleich uns den Geduldigen, Demüthigen, Gerechten" - so heißt das, kalt und ohne Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter als "wir Schwachen sind nun einmal schwach; es ist gut, wenn wir nichts thun, wozu wir nicht stark genug sind" - aber dieser herbe Tatbestand, diese Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten haben (die sich wohl todt stellen, um nicht "zu viel" zu thun, bei großer Gefahr), hat sich dank jener Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet, gleich als ob die Schwäche des Schwachen selbst - das heisst doch sein Wesen, sein Wirken, seine ganze einzige unvermeidliche, unablösbare Wirklichkeit - eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine Tat, ein Verdienst sei. Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie "Subjekt" nöthig aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt. Das Subjekt (oder, dass wir populärer reden, die Seele) ist vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er die Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So-und-So-sein als Verdienst auszulegen.
June 12, 1987
Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit; Hybris ist unsere Stellung zu Gott, will sagen, zu irgend einer angeblichen Zweck- und Sittlichkeitsspinne hinter dem grossen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit - wir dürfen wie Karl der Kühne im Kampf mit Ludwig dem Elfen sagen "je combats l'universelle araignée" -; Hybris ist unsere Stellung zu uns, - denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am "Heil" der Seele! Hinterdrei heilen wir uns selber: Kranksein ist lehrreich, wir zweifeln nicht daran, lehrreicher noch als Gesundsein, - die Krankmacher scheinen uns heute nöthiger selbst als irgend welche Medizinmänner und "Heilande". Wir vergewaltigen uns jetzt selbst, es ist kein Zweifel, wir Nussknacker der Seele, wir Fragenden und Fragwürdigen, wie als ob Leben nichts Anderes sei, als Nüsseknacken; ebendamit müssen wir nothwendig täglich immer fragwürdiger, würdiger zu fragen werden, ebendamit vielleicht auch würdiger - zu leben?... Alle guten Dinge waren ehemals schlimme Dinge; aus jeder Erbsünde ist eine Erbtugend geworden. Die Ehe zum Beispiel schien lange eine Versündigung am Rechte der Gemeinde; man hat einst Busse dafür gezahlt, so unbescheiden zu sein und sich ein Weib anzumassen.
Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der "Sittlichkeit der Sitte" zu empfinden, welche der "Weltgeschichte" vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wissbegierde als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere an sich überall in Geltung war!"
Ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen (— dass jede Art Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne Erfolg bleibt, hängt mit der nachgerade unableugbaren und bereits handgreiflichen Verödung des deutschen Geistes zusammen, deren Ursache ich in einer allzuausschliesslichen Ernährung mit Zeitungen, Politik, Bier und Wagnerischer Musik suche, hinzugerechnet, was die Voraussetzung für diese Diät abgiebt: einmal die nationale Einklemmung und Eitelkeit, das starke, aber enge Princip „Deutschland, Deutschland über Alles“, sodann aber die Paralysis agitans der „modernen Ideen“). Europa ist heute reich und erfinderisch vor Allem in Erregungsmitteln, es scheint Nichts nöthiger zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser: daher auch die ungeheure Fälscherei in Idealen, diesen gebranntesten Wassern des Geistes, daher auch die widrige, übelriechende, verlogne, pseudoalkoholische Luft überall. Ich möchte wissen, wie viel Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus, von Helden-Kostümen und Klapperblech grosser Worte, wie viel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls (Firma: la religion de la souffrance), wie viel Stelzbeine „edler Entrüstung“ zur Nachhülfe geistig Plattfüssiger, wie viel Komödianten des christlich-moralischen Ideals heute aus Europa exportirt werden müssten, damit seine Luft wieder reinlicher röche… Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion eine neue Handels-Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen „Idealisten“ ein neues „Geschäft“ zu machen — man überhöre diesen Zaunspfahl nicht! Wer hat Muth genug dazu? — wir haben es in der Hand, die ganze Erde zu „idealisiren“!… Aber was rede ich von Muth: hier thut Eins nur Noth, eben die Hand, eine unbefangne, eine sehr unbefangne Hand…